Schnee von gestern und ein Rotkehlchen

Letztes Wochenende fiel im Wald noch einmal Schnee. So richtig. Ich kramte meine Winterstiefel aus den Untiefen meines Kleiderschranks und stapfte plötzlich durch 30cm tiefes knirschendes Weiß. Das war überraschend und ungewohnt anstrengend und passte irgendwie nicht in meinen Plan. Ein bisschen schön fand ich es auch, weil Schnee im Wald einfach schön ist.
Zwei Tage später war alles wieder weg. Ein warmer Wind wehte, die Vögel zwitscherten mit der Sonne um die Wette und ein paar lila Krokusse hießen eine erste Hummel willkommen.

Wie schnell alles anders sein kann, dachte ich.

Und ich dachte an mein letztes Jahr, das aus verschiedenen Gründen ein schwieriges für mich war und sich rückblickend so anfühlt, als wäre es gleichzeitig so lang wie eine Dekade und so kurz wie ein Wimpernschlag.
Der Schnee von gestern wirkt heute schon wie ein Traum. Das Schwierige überstanden, der Schmerz gelindert, die Verzweifelung ein Stückchen kleiner und mehr Platz für Wachstum, Leichtigkeit, Ganzheit und Hoffnung.
Und das, was mich ratlos gestimmt, durcheinander gebracht oder vielleicht sogar wütend gemacht hat, ist ein weiteres vergangenes Erlebnis, das sich nach und nach in mein Sein einsortiert, das ich zu meinem Erfahrungsschatz zählen kann.
Ein Schatz, der jeden Tag größer wird, der mich morgen im besten Fall zu einer weiseren, gelasseneren, offeneren, freundlicheren, großzügigeren, liebevolleren Person werden lässt.
Ich mag die Vorstellung, dass meine Herausforderungen, meine inneren und äußeren Kämpfe, meine Fehler, meine Stolpersteine und vor allem die Erkenntnisse daraus, mich dazu befähigen, jemand anderem besser helfen zu können.

Und genau das ist für mich das Schöne am älter werden,

wobei ich die englische Bezeichnung »Growing old« - »alt wachsen« viel passender finde. Es ist aktiver und doch den Gesetzen der Natur unterworfen.
Gleich fällt mir dabei eine der eindrucksvollen Eichen ein, die um unser Haus herumstehen. »Growing old« suggeriert, dass ich mit dem großen Ganzen verbunden bin. Dass ich Wurzeln habe, die sich Jahr für Jahr immer tiefer in die Erde graben und mir Halt geben, auch wenn ein wilder Sturm in meiner Krone tobt. Dass ich mich gleichzeitig mit meinen Ästen dem unbegrenzten Himmel entgegenstrecke, mich dem Licht zuwende. Dass ich Regen, Sonne, Nahrung brauche, um zu wachsen, dass ich blühe, Früchte trage, sie ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, mit anderen teile. Dass ich aber auch weiß, wann es Zeit wird, meine Blätter abzuwerfen und mich zurückzuziehen, um zu regenerieren. Und dass ich mich vielleicht auch hin und wieder mal häute, meine Rinde abwerfe, weil sie für mich zu eng geworden ist.
»Growing old« erinnert mich daran, dass alles ein Kreislauf ist, dass nichts sicher ist und gleichzeitig doch alles. Und dass der Schnee von gestern sich immer irgendwann verwandelt. Dass er schmilzt, zu Wasser wird, versickert oder sich in einer kleinen Pfütze sammelt, in der dann ein Rotkehlchen baden kann.

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